Transzendenz in Jazz und Gottesdienst

Eine Kur für die Kirchenmusik

Von Gunnar Lammert-Türk, DeutschlandfunkKultur


Ob Paul Gerhardt oder Johann Sebastian Bach – die evangelische Kirchenmusik verfügt über ein reiches Erbe. Doch ein solches Erbe kann auch belasten. In Berlin suchen ein Organist und ein Saxofonist nach neuen Wegen.

„Ein guter Gottesdienst sollte mich an die Gegenwart Gottes heranführen und nicht nur durch das Wort, sondern auch durch das Zusammenspiel von Musik und Stille zur Schönheit führen. Und in eine anmutige, demütige Haltung.“

So wünscht es sich der in Berlin lebende Jazz-Saxophonist und Komponist für Kirchenmusik, Uwe Steinmetz. Denn der evangelische Christ erlebt häufig Gottesdienste, die statt zu verwandeln und zu inspirieren eher ermüden und enttäuschen. Deshalb hat er gemeinsam mit dem Jazzpianisten und Organisten Daniel Stickan das Projekt „Waves“ gegründet, das Jazz und Kirchenmusik verbindet. Sie wollen die Bestandteile der gottesdienstlichen Liturgie neu beleben. Wie Daniel Stickan sagt, geht es darum, „…dass wir für die einzelnen Elemente neue Klänge schaffen wollen, die letztendlich nichts Anderes sagen als das, was immer schon gesagt wurde, aber auf eine Art, die eine neue und vielleicht für bestimmte Menschen zugänglichere Atmosphäre schafft.“

Eine Art heilsamer Verstörung

Die von Steinmetz und Stickan entwickelten Gottesdienste sollen der Hörgewohnheit der heutigen Menschen Rechnung tragen, die von der Musik der jüngeren Vergangenheit geprägt ist und diese auch in die Interpretation älterer Kirchenmusik einfließen lassen. Zugleich wollen sie ein neues Hören anregen mit Hilfe einer sanften musikalischen Provokation. Jazz mit seiner rhythmischen und melodischen Raffinesse und seiner eigenwilligen Tonalität könne dafür sorgen, „im Gottesdienst so eine Art von gesunder Irritation herzustellen, so eine Art heilsame Verstörung. Und wenn ich permanent in Strukturen bin von Klängen und von Texten, die mir alle wie so eine graue Masse nur entgegen kommen, dann tötet das natürlich auch das Empfindungsvermögen ab. Also ich glaube, dass das ein Potential von Jazz auch ist, Sensibilitäten zu schärfen.“

Gottesdienstliche Liturgie bleibt der Leitfaden

Die heilsame Verstörung mit Hilfe von Jazzklängen setzen Steinmetz und Stickan im Gottesdienst vielfältig ein. Zum Beispiel durch freie Ausformung einzelner Phrasen bei der Begleitung von Liedern. Oder mit musikalischen Assoziationen zu biblischen Lesungen und Predigten. Und durch Klangflächen bei der Austeilung des Abendmahls. Dabei bleibt das Schema der gottesdienstlichen Liturgie ihr Leitfaden. Aber sie gestatten sich einen experimentellen Umgang mit ihren Elementen, verstehen sie als Grundlage von Improvisationen, wie sie im Jazz üblich sind. Das hat auch eine Tradition in der Kirche, sagt Steinmetz. So sei „die Geschichte der alten Kirche sehr davon geprägt, dass es eben Vokalimprovisation gab ohne Worte. Der Kantor, das kommt ursprünglich aus der jüdischen Tradition, hat zum Beispiel dann einfach ein Gloria verlängert, auf dem Schlusston des Glorias der Gemeinde hat er weiter gemacht und einfach improvisiert. Es ist aber natürlich davon auszugehen, dass bis zu Beginn der Barockzeit solche Möglichkeiten in der Liturgie, insbesondere von den Sängern, auch improvisierend erarbeitet wurden. Das waren also quasi fast jazzgerechte Prozesse, wo man schaut, wie kann ich diesen Klang weiter formen, wie kann ich hier noch eine Quinte hinzufügen, wie erweitert sich dieses Klangspektrum.“

Auch bekannte Komponisten früherer Epochen wie Bach und Buxtehude improvisierten in den von ihnen begleiteten Gottesdiensten. Der Effekt war damals wie heute derselbe: Der Kirchenraum wird lebendig erfahren und den Texten, Gebeten und liturgischen Formeln wird eine Resonanzfläche geboten, die die Nüchternheit und Schwere des Wortes auflösen soll und im besten Fall eine vertiefte Aufnahme ermöglicht.

Musik schafft einen sinnlichen Erlebnisraum

Vor allem aber schafft die Musik einen sinnlichen Erlebnisraum, der Gefühlen, Gedanken und Assoziationen Anregung und Raum zur Entfaltung gibt. Dabei können durchaus Stücke verschiedener Herkunft und Epochen miteinander verknüpft werden. Sie müssen nur, um schmerzhafte Stilbrüche zu vermeiden, in eine homogene Klanggestalt gegossen werden.

Ein Vorgang, der Jazzmusikern vertraut ist, die es gewohnt sind, vorgegebenes Material umzuformen und neu zur Wirkung zu bringen. Jazz kann deshalb, davon sind Uwe Steinmetz und Daniel Stickan überzeugt, eine Brücke schlagen zwischen der jahrhundertealten Tradition der Kirchenmusik und modernen Formen von Musik. Mit dem Ziel, „eine Musik zu bieten, die so spannend sein kann, dass sie wirklich Leute sozusagen näher an den Himmel bringt.“