Ulrike Haage (Flügel) & Daniel Stickan (Orgel) – „Alles Licht“
Ulrike Haage (Flügel) & Daniel Stickan (Orgel) – „Alles Licht“
CD-Release, Kleinmachnow – Titelsong „Alles Licht“ (Ulrike Haage)
CD-Release, Kleinmachnow – „Window of Enlightenment“ (Ulrike Haage)
Liner-Notes von Ulf Drechsel
Jede neue Produktion von Ulrike Haage ist eine Art Wunderbox. Vor dem Öffnen weiß man nur, sie wird Musik einer Künstlerin offenbaren, die in rund vier Jahrzehnten musikalischen Schaffens eine beispiellose künstlerische Handschrift entwickelt hat. Und wer das Werk von Ulrike Haage kennt, kann gewiss sein, dass ihre neue, noch ungehörte Musik überraschen, fesseln, berühren wird.
Ulrike Haage versteht ihre Arbeit als etwas Ganzheitliches. Als Verbindung von Musik, Wort, Bild, Klang, Geräusch. Ihre Kompositionen für Hörspiele, Hör- und Theater-Stücke und Filme sind nie nur atmosphärisches oder klangliches Beiwerk. Die Musik von Ulrike Haage gibt dem gesprochenen Wort, dem bewegten Bild, dem Klang des Lebens eine neue Dimension, neue Bedeutung. Ihre Musik schafft und öffnet Räume, in denen sich das Gehörte und Gesehene erweitern oder verdichten kann. Die Musik von Ulrike Haage wird zum Katalysator für die Zuhörenden, tiefer in die eigene Gefühls- und Gedankenwelt einzutauchen, vielleicht sogar sich selbst neu zu entdecken.
Die Musik auf dem Album ALLES LICHT fand ihren Ausgangspunkt in einer für unsere Welt bislang einmaligen, das Leben extrem beeinträchtigenden Situation: 2020 während des ersten Lockdowns in der Corona-Pandemie.
„Ich habe damals nach einem Instrument gesucht, mit dem ich neue Klänge in eine veränderte Welt bringen und zugleich Trost spenden wollte – mir selbst und anderen“, sagt Ulrike Haage. Diese suchende Ausschau führte sie zur Orgel. Ulrike Haage fand dieses Instrument in unterschiedlichsten Kirchenräumen – von der Dorfkirche bis zum Dom – in Dänemark, auf Langeland und Bornholm, im süditalienischen Salento und Berlin – und so begann sie zu komponieren. Für Klavier und Orgel.
Die Stücke auf ALLES LICHT spiegeln einerseits den Zustand der Welt und andererseits zutiefst persönliche Gedanken und Gefühle der Künstlerin. Gedanken und Gefühle, die sie in die Welt tragen und mit ihr teilen möchte. Ulrike Haage reflektiert in ihrer Musik die Begegnung mit Menschen, die Beschäftigung mit deren Leben. Sie reflektiert ihre Verbundenheit mit der Natur, mit klassischer Musik, mit Jazz, Minimal Music und mit der Improvisation. Sie reflektiert Erlebnisse ihrer Reisen nach Japan, ihre Arbeit fürs Radio und den Film. Alles fließt zusammen und ineinander. ALLES LICHT ist komplex und einfach zugleich.
Das Album entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Organisten Daniel Stickan, mit dem Ulrike Haage schon mehrfach zusammen gespielt hat. Die Direktheit und Klarheit der Aufnahme, der ineinander verwobene Klang von Konzertflügel und Kirchenorgel ist sowohl dem emotionalen und musikalischen Gleichklang der beiden zu verdanken, als auch der Besonderheit des Raumes, in den sich beide für die Produktion zurückgezogen haben. In die Neue Kirche in Kleinmachnow, in der die Atmosphäre eines Tonstudios annähernd hergestellt werden konnte.
Anders als in den meisten Kirchen, die über eine Orgel verfügen, ist die in der Neuen Kirche in Kleinmachnow nicht fest auf einer Empore eingebaut, sondern verfügt über einen mobilen Spieltisch. Somit saßen Haage und Stickan bei den Aufnahmen im Kirchenraum direkt nebeneinander, mit Blickkontakt und einer Nähe, die besonders in den leisen Momenten der Musik geradezu greifbar wird. Und im nächsten Moment dann wieder erreichen uns Klänge von einer gewaltigen gemeinsamen Kraft. Das Wechselbad von Gefühlen, die Vielschichtigkeit des Lebens – geronnen in Musik.
Ulf Drechsel im Sommer 2024
Jazzthetik-Rezension von Hans-Jürgen Linke
Bei Ulrike Haage geht es nicht allein um Sichtbarkeit. Der Titel ihres neuen Albums „Alles Licht“ ist inspiriert von dem das Buch „Alles Licht, das wir nicht sehen“ („All The Light We Don’t See“) von Anthony Doerr, eine Geschichte um die blinde Marie Laure im besetzten Frankreich während der düsteren Zeit des Zweiten Weltkriegs. Ulrike Haage denkt im Medium der Musik auch über Dinge nach, die wir nicht sehen können. Licht kommt in den Titeln der elf Kompositionen des Albums in mehrfacher Gestalt vor: im Eingangsstück, in dessen Durchführung und der Reprise, sodann selbstleuchtend in dem Titel „Noctilucent“ und schließlich in dem runden Fenster der Erleuchtung („Window Of Enlightenment“). Dieses Fenster findet sich im Genko-an Tempel in Kyoto und bildet einen nachbarschaftlichen Gegensatz zum rechteckigen „Fenster der Verwirrung“. Es gibt ein weiteres Buch, das Anregungen geliefert hat für Ulrike Haages Musik: Glenn A. Albrechts „Earth Emotions“, in dem unter anderem nach neuen Worten für eine sich verändernde Welt gesucht wird – Worte, in denen die dabei lebendig werdende Verlusterfahrung mitschwingt. So gesehen handelt „Alles Licht“ auch von Erfahrungen während der Pandemie- Jahre, die nicht nur für Künstler*innen Verluste mit sich gebracht hat: Kaum noch Auftritte und Reisen, wenig Resonanz und Kommunikation – andererseits neue Arten von Arbeit, von Öffentlichkeit und Unterstützung. Eine widersprüchlich strukturierte Phase, die nachwirkt und von der aus viele nicht einfach zurück können in ein unberührtes Davor.
Ulrike Haage hat nach musikalischen Möglichkeiten gesucht, solche Erfahrungen und Emotionen auszudrücken und ist dabei auf neue Räume für ihre Musik gekommen – und auf ein sehr altes Instrument. Es waren Kirchen, die die Pandemie-Zeit ihr erschlossen hat, und die da hinein gefügten Orgeln – eine neue und in ihrer ausgeprägten Vielgestaltigkeit ungeahnte Welt. Die Kirchenorgeln, mit denen sie sich beschäftigte, die zu spielen sie übte und lernte, waren äußerst unterschiedliche Instrumente, in allen Größen, mit höchst individuellen Eigenschaften und aus unterschiedlichsten Epochen und Stilen. Ulrike Haage ist damals nicht nur durch Deutschland gereist, sondern auch in Dänemark, wo die pandemische Situation etwas anders definiert war als hier zu Lande. Sie hat Kontakte mit Pfarrern und Kantoren geknüpft und bekam die Erlaubnis, ihre Musik auf Orgeln in Dorf- und Stadtkirchen zu spielen. Kein Instrument, sagt sie, habe dem anderen geglichen – eine bewegende Erfahrung. Die Musik, mit der sie diese weiträumige und folgenreiche Reise unternommen hat, waren ihre eigenen Kompositions-Skizzen und Kompositionen, entstanden meist aus Improvisationen am heimischen Flügel. Wenn man sich an verschiedenen Orten und verschiedenen Instrumenten mit der eigenen Musik beschäftigt, kann es geschehen, dass sich vieles reduziert. Dass sich aus einer angereicherten Fülle von Klängen und Material etwas kristallisiert, was sich als wesentlich erweist und Bestand hat. So hat sich die Musik verändert, hat sich in Themen gruppiert und zu konsistenten musikalischen Gedankengängen konzentriert.
Geblieben ist dabei auch die Erfahrung, in Kirchenräumen mit jeweils ganz eigener Akustik auf einem Instrument zu spielen, das diese Akustik auf spezifische Weise zu seiner eigenen gemacht hat. Nein, sagt Ulrike Haage nachdrücklich, es sollte keine Sakralmusik dabei herauskommen. Sondern Musik, die Erfahrungen und Gefühle reflektiert und bearbeitet, die die Einflüsse aus Jazz, minimal music, Romantik und Impressionismus spiegelt, die ihre eigene Musik seit je geprägt hat. Und die über den Tellerrand eines l’art pour l’art hinausschaut und wichtige außermusikalische Gedanken mitschwingen lässt. So wurde es nötig, die Orgel für das neue Album gewissermaßen dazu zu nehmen, dieses komplizierte Instrument mit seiner abendländisch-sakralen Tradition und all den variablen Klanggestalten, die sich, von Blasebälgen getragen, in der Zeit ganz anders verhält als die des Klaviers. Mit dem Lüneburger Organisten Daniel Stickan, der gleichermaßen als Jazz- wie auch als Kirchenmusiker arbeitet, fand Ulrike Haage einen kongenialen und gleichgesinnten Mitmusiker.
Und dann gab es da die moderne Orgel in der neuen Kirche von Kleinmachnow. Diese Orgel hat nicht den üblichen, auf der Empore installierten Spieltisch, sondern ermöglicht dessen variabel im Raum verschiebbare Platzierung, so dass Ulrike Haage an ihrem (auf die Orgel abgestimmten) Bechstein-Flügel mit dem Organisten Daniel Stickan in ständigem Blickkontakt arbeiten konnte. Der Kirchenraum wartet
darüber hinaus mit einer nahezu studio-ähnlichen Akustik auf.
So entstand in Kleinmachnow die nicht-sakrale, dabei zutiefst spirituelle und beziehungsreiche Musik, die sich jetzt auf dem Album „Alles Licht“ findet. Sie ist aus improvisiertem Material gearbeitet und immer wieder mit Improvisationen angereichert. Sie handelt von Dingen und Vorgängen, die wir spüren, aber nicht unbedingt sehen können.